Singe, Bajazzo, singe!
Angst, sagen Psychologen, die Massenpaniken auf Volksfesten erforschen, ist kein schlechter Ratgeber. Wenn einen beispielsweise bereits hundert Meter vor der Sicherheitsschleuse ein mulmiges Gefühl im Dickdarm befällt, weil über die Boxen Herbert Grönemeyer herüberdröhnt (natürlich ein Double, das gleich als Roland Kaiser weitermacht), soll man seinem animalischen Fluchtreflex folgen und rasch Reißaus nehmen, denn es kann nur schlimmer werden (z.B. Wolfgang Petry).
Genauso sollte man sich verhalten, wenn man auf der Festwiese einem Mann begegnet, der statt einer Flasche Lübzer Dünnbier ein Messer in der Hand trägt. Dann ist es ganz falsch, mit seiner Angst zu hadern und etwa zu sich selbst zu sagen: »Sei nicht so empfindlich, was soll denn deine Frau von dir denken!« Denn dann handelt es sich nämlich – ohne der Unschuldsvermutung zu nahe treten zu wollen – um einen Messerstecher.
In solch einem Fall bitte nicht erst lange überlegen, ob der Typ nicht doch recht harmlos aussieht und vielleicht dem jungen Günther Jauch ähnelt! Auch die Frage »Was will er mir nonverbal mit dem Messer sagen, will er vielleicht flirten?« soll man auf später verschieben. Und es hat auch keinen Sinn, sich einzureden, dass er es wahrscheinlich nur auf Festbesucher mit Doppelkinn und Brille abgesehen hat.
Vielmehr gilt: Bekenne dich zu deiner Angst! Presse deine minderjährigen Kinder an deinen Körper, fliehe vom Festgelände, ignoriere die Schreie, die du plötzlich hinter dir hörst (vorausgesetzt, du hast in der Eile nicht deine Gattin vergessen)!
Für den Fall, dass man nicht schnell genug außer Stichweite kommt, haben die Psychologen eine Vielzahl kleiner Kniffe erfunden, deren Befolgung aber 1. tödlich sein kann und 2. eine Menge Mut erfordert, weshalb hier auch nur einer erwähnt wird: Man soll den Messermann freudig ansprechen, um ihn aus dem Konzept zu bringen, etwa mit »Mensch, du, ist das schön, dass wir uns endlich wiedersehen! Und ausgerechnet hier auf dem Sommerfest des theologischen Seminars!« – Ausgang ungewiss.
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Ganz falsch aber ist es, dem Mann konfrontativ zu begegnen (»Schämst du dich nicht?! Und das hier vor den Kindern!«). Selbst wenn er des Deutschen nicht mächtig sein sollte, wird er den Vorwurf heraushören. Forschungen im Irak und in Kaiserslautern ergaben: Moralische Vorhaltungen machen Islamisten einfach rasend, was ja auch nur menschlich ist.
Die Berliner Polizei empfiehlt eine andere Strategie. Sie hört sich ein bisschen komisch an, weswegen sie von großen Meinungsblättern auch unter »Geschmunzelt« oder »Witzig, witzig!« zitiert wurde. Die Polizei rät: Singe!
Dieser Rat kommt wie gerufen – wir Deutschen sind ein singendes Volk, mit dem »Heideröslein« kamen wir durch alle Katastrophen und Kriege, nirgendwo sonst herrscht so eine hohe Chordichte wie in Deutschland.
Aber in Gefahr kann man nicht erst ein Repertoire zusammenstellen! Fang einfach mit dem Deutschlandlied an – erste Strophe, die ist weltweit gefürchtet. Rotze sie dem Meuchelmörder ins Gesicht, so dass er nicht weiß: Wen von euch Ungläubigen soll ich zuerst erstechen? Wenn du dann nach einer kurzen Atempause »Die Gedanken sind frei« anstimmst, werden sich die ersten Festbesucher summend dir zugesellen, der zarte Ton einer Mundharmonika schwebt im Abendlicht, Kinder fassen sich bei den Händen, junge Frauen lassen die Röcke schwingen – und da! Da hört man auch schon die Sirenen von Polizei und Rettungswagen!
Wahrscheinlich ist der Messerstecher durch das kleine Konzert kein besserer Mensch geworden. Aber wenn ihn der Freiheitschor aus »Nabucco«, das FDJ-Lied »Wir sind überall« oder der sozialdemokratische Dauerbrenner »Wann wir scheitern Seit’ an Seit’« hinterhergejubelt wird, wird ihm selbst in Fußfesseln das Gehen leicht … Und nun endlich dürfen die Überlebenden des Massakers dem Unhold auch das französische Liebeslied nachbrüllen, dessen poetische Verse in Deutsch von jungen Sylter Partygängern in die Welt getragen wurden: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!«
Die Nacht ist dann natürlich noch lang. »Ich hab ’nen Puff und meine Puffmama heißt Layla«, grölt es übers Festgelände – und das Gute hat das Böse, hat all die Messermänner und Kapuzenmädchen besiegt.
Wenigstens für dieses Mal. Doch schon bald öffnen die Weihnachtsmärkte.
MATTI FRIEDRICH
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