Die Insel

Heute vor 50 Jahren – Oder: »Früher war die EULE besser!«

Von seiner besten Seite zeigt sich Hiddensee in der Literatur. Hiddensee in Leinen gebunden, in Form prächtiger Farbtafeln und unschuldig-idyllischer Schwarz-Weiß-Fotos wellig hingelagert und aufgetürmt, ist beinahe unbeschreiblich reizvoll. Mit einem Ruck lässt sich all die Schönheit schwerlich beschreiben, deshalb hat der Brockhaus Verlag, Leipzig, allein im vorigen Jahr gleich zwei Hiddenseebücher in die verlegerische Landschaft gestellt, teils in bearbeiteter Auflage. Die Bearbeitung kommt den Büchern zugute, weniger der Insel, obgleich sie die Vorstellung von der Insel im Bewusstsein der Leser, die listig das Eiland zu meiden wussten, ungemein verschönt.

Von seiner weniger reizvollen Seite zeigt sich Hiddensee gelegentlich in Form von Leserbriefen an den EULENSPIEGEL. Die Leser geben ihrem Zorn die Sporen, bezeugen andererseits aber eine unbezwingbare Anhänglichkeit für die Insel. Einige der Briefschreiber bitten nämlich um Anonymität, weil sie sonst »Inselverbot« bekämen, sagen sie. »Inselverbot« ist Quatsch. Das gibt es nicht. Auf Hiddensee stehen zwar Kreuzottern und fleischfressende Pflanzen unter Naturschutz, aber das heißt nicht umgekehrt, kritische Leserbriefschreiber würden verfolgt.

Halten wir zunächst einmal fest, was nur ungeheuer kostspielig festzuhalten ist: die Insel als solche. Sie wäre längst zweigeteilt, gäbe es nicht die modernsten und teuersten Deiche an der Ostseeküste auf Hiddensee. Die Insel ist befestigt ausschließlich für Urlaubszwecke. Andernfalls löst sie sich in ihre Bestandteile auf.

Hier müssen einige Zahlen genannt werden, um den Begriff Eintagsfliege aus dem zoologischen Bereich auf eine neue, höhere Stufe zu heben. Hiddensee ist 17 Kilometer lang und gar nicht breit. 1312 angestammte Insulaner sind dort sesshaft; 35 000 länger und mittelfristige Urlauber beherbergt die Insel pro Jahr: dazu gesellen sich über 350 000 Tagesbesucher, sogenannte Eintagsfliegen. Es gilt die Faustregel: »Eine Saison Eintagsfliegen ist wie eine mittlere Sturmflut.«

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Die Eintagsfliegen gesellen sich zu der übrigen Überbevölkerung, es liegt auf der Hand, dass die Standardformen des geselligen Miteinanders von Eintagsfliegen und Mehrwochenurlaubern vornehmlich in Reibungen bestehen. Die Gruppierungen fallen sich gegenseitig zur Last. Die einen neiden den anderen das vorgebuchte Bett und die damit verbundenen Mahlzeiten; die anderen neiden den einen die Aussicht, noch am selben Tage die Insel hinter sich lassen zu können. Akut wird die abzusehende Gemeinsamkeit in ihren Zuspitzungen in erster Linie bei schlechtem Wetter. Appetit und Durstgefühle nehmen bei einem Sauwetter eher zu als ab. Die Gaststätten, soweit sie nicht von Ferienobjekten Simson-Suhls oder vom Reisebüro rechtens belegt sind, scheinen dem Ansturm nicht gewachsen zu sein. Die HOG Norderende in Vitte wird zwar viel gelobt, aber als wir dort Visite machten, war kein Ansturm. Es ist ganz einfach so, dass Eintagsfliegen den Wetterbericht zu Rate ziehen sollten, ehe sie sich in Stralsund einschiffen.

Die Beschreibung der Versorgungsmodalitäten soll Fortschritte nicht ausklammern, die jetzt endlich der paradiesischen Insel mit dem harten Klima zuteil werden. Schubprähme bringen kühle Milch, Fleisch und Gemüse. Trotzdem ist der Wunsch nach einer inseleigenen Gärtnerei unüberhörbar. Eine Wartehalle für die Eintagsfliegen im Welthafen Vitte wäre auch ganz nett.

Ungemein aufwerten könnte man den Hafenplatz Vitte durch ein fein gemaltes Schild mit der Aufschrift »Schöner unsere Insel!« Jeder begreift dann auf Anhieb, wie die Parole segensreich wirken müsste. Zu beseitigen wären herumliegende Betonelemente, Balken, leere Fischkästen und Kästen mit leeren Flaschen. Stein und Bein könnte man schwören, dass dieser Hafenplatz gepflastert werden sollte – aber mit einem Schwur alleine ist es eben nicht getan. Drei kleinere Bauwerke im Hafen laden zum Staunen ein. Die Hälfte einer Halbbaracke, einst die Wäscherei der Inselgemeinde, zeugt von der Tüchtigkeit der Inselfeuerwehr. Als die Baracke abzubrennen drohte, rettete die Feuerwehr einen Teil davon. Dieser Rest ist als Denkmal gut erhalten. Dann gibt es eine Telefonzelle, die extrem defekt und folglich absolut unbenutzbar ist. Ein neuer Zeitungskiosk unweit des Hafens schließlich kann als Augenweide angesehen werden. Er bietet Staub und Spinnweben im Sortiment, doch nicht ein einziges Presseerzeugnis.

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Ein Schandfleck kann pittoresk sein, das heißt also: Der Hafen von Vitte ist pittoresk.

Wer das Hobby hat, ein Notizbuch zu führen, in das gastronomische Errungenschaften eingetragen werden, hat auf Hiddensee Stoff genug. Die Gastronomie wurde nicht erweitert. Im Gegenteil. Die »Hiddensee«-Klause hat 1973 die Schotten dicht gemacht. Die »Heiderose« ist jetzt Betriebsgaststätte des Ferienobjektes von Simson-Suhl. In die HOG »Strandhotel« regnet es ein wenig rein.

Klüglich hat das Reisebüro deshalb die vertraglich gebundenen Zimmer bis zur Renovierung storniert. Dies war gut, denn die Renovierung wurde ebenfalls storniert. In der HOG »Dornbusch« in Kloster wurde ebenfalls etwas storniert, und zwar der Objektleiter. Er hatte seinen Gästen zu viel vom Munde abgespart und hat nun Zeit, Reue zu produzieren. In der Heide zwischen Neuendorf und Vitte blühte bis 1973 ein kleines Blümelein, das war die tüchtige Verkäuferin einer Konsum-Saison-Verkaufsstelle. Das Blümelein ist nun Verwaltungsleiterin der Feriensiedlung Simson-Suhl. Zweifellos ein berechtigter beruflicher Aufstieg. Aber die Verkaufsstelle ist gestorben.

Die Insel ist ein Dorado der Erholung für die Prominenz von Bühne, Film, Schmalfilm und einigen literarischen Genres. Die kulturelle Ausstrahlung der Persönlichkeiten auf die Inselgäste anderer Professionen ist so riesig nicht, wie man voreilig schlussfolgern könnte. Wäre nicht Hans Pitra vom Berliner Metropol-Theater! Er kümmert sich sogar um die Jugendweihlinge der Ureinwohner. Durch ihn lernt der Inselnachwuchs die Welt kennen: das Metropoltheater, den Fernsehturm und alles solche Sachen.

Hiddensee hat einen schwimmenden Campingplatz. Das ist bei näherem Hinhören kein Grund zum Jubeln. Es gibt bekanntlich begüterte Mitbürger, die besitzen solche niedlichen Schiffchen, die früher unter dem Namen Jacht vertäut waren. Rund 160 davon liegen in Vitte und Neuendorf. Die begnadeten Segler vor dem Herrn können zwar nicht die ganzen Sommermonate hinweg ihre komfortablen Nussschalen befehligen, aber vermieten lassen sich die Dinger allemal. Eines Tages, lange ist es nicht her, musste wegen baulicher Maßnahmen der Seglerhafen in Neuendorf geräumt werden. Nolens volens mussten die Schiffchen seglerisch gehandhabt werden. Und siehe da: Die Hausbootbewohner konnten gar nicht segeln. Die Bootseigner wurden telegrafisch herbeizitiert, damit die Jachten in Bewegung gerieten. Das war natürlich peinlich – für die Bootsbesitzer und die vorgetäuschten Segelschiffskapitäne.

Heinz Behling

1916 begann der Dichter Gerhart Hauptmann auf Hiddensee, deren Schutzheiliger er bis heute ist, den phantastischen Roman »Die Insel der Großen Mutter«. In einem Tagebuch bekennt der Olympiier epochemachend: »Ich hätte sie (die Insel der Großen Mutter) wohl nie geschrieben, hätte ich nicht jahrelang auf Hiddensee die vielen schönen, oft ganz nackten Frauenkörper gesehen und das Treiben dort beobachtet.« Der betagte Dichter hatte gewiss den richtigen Blick.

Und er wäre am FKK-Strand Hiddensees keine Eintagsfliege gewesen.

Carl Andrießen

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