Das stille Sterben der Mauerwanzen
Noch vor einem halben Jahr lachten sie mir von jeder Ampel und sämtlichen Laternenmasten entgegen: fröhliche Krabbeltierchen! Wanzen sollten das sein, mit Kulleraugen in Regenbogenfarben. Ich dachte schon, eine perverse Tiermafia handelt mit Ungeziefer und versucht, mit niedlichen Abreißzetteln an Kundschaft zu kommen. Aber es ging um »die kleinen Mauerwanzen«, eine Elterninitiative-Kita am Berliner Mauerpark. Die suchte dringend Nachwuchs und war offenbar bereit, jeden zu nehmen, der einen aktuellen Kitagutschein und ein echtes Kind vorweisen konnte.
Das war früher mal ganz anders. Damals, als Lastenräder voller Kinder die Gehwege verstopften, als im Buddelkasten Wartenummern verteilt wurden, als es mehr Babybäuche als Bierplauzen gab – da waren »die kleinen Mauerwanzen« ein elitärer Club von woken Geldsäcken mit einer Spezialisierung auf hochbegabte Baumwollwindelträger. Die Warteliste für einen Platz war meterlang. Kein Wunder bei dem Angebot: nur 20 Kinder, selbstgebackenes Saaten-Brot, bilinguale Klavierlehrerin, Buchdruckwerkstatt und Pilates-Kurse – alles, was sich Kinder wünschen.
Ich hatte damals Glück und ergatterte für meinen Sohn einen Vorstellungstermin. Vielleicht weil er so blond war oder ich eine gebrauchte Fjällräven-Jacke trug, jedenfalls hätten wir beinahe dazugehört.

Obwohl mein Sohn bei der Aufnahmeprüfung für dieses gehobene Bildungsinstitut in der liebevoll gefilzten Kinderküche Buletten braten wollte. Es gab dort nur Filz-Kohlköpfe, Filz-Bratpfannen und Filz-Karotten, was ihn zu einem seiner gefürchteten Wutanfälle veranlasste – Buletten waren nun mal sein Leibgericht. Er schmiss erst das filzerne Gemüse und dann die kleinen Holzmöbel durch den Raum. Die Vorsitzende der Aufnahmekommission musste im Kuschelraum Schutz suchen.
»Na, da wächst wohl ein kleiner Psychopath heran …«, sagte sie später verständnisvoll lächelnd. Der Kleine würde bei ihnen sicher zur Ruhe kommen, mit Meditation und ganz viel Achtsamkeit. Fleisch bekäme dieser Wildfang natürlich nicht (Fleisch mache nämlich wütende Kleinkinder noch wütender).
Einen Garten zum Austoben hatte die Kita auch nicht, dafür den Mauerpark vor der Tür. Da konnten die Kleinen mit den Kötern um die Wette rennen und viel Berliner Luft schnuppern. Jeden Monat gab es (bei gutem Wetter) eine Mauer-Streifen-Wanderung unter dem Motto »Nie wieder geteilt«, damit die Kinder den Kampf gegen das Unrechtsregime verinnerlichten. Im pädagogischen Alltag wurden die angemieteten Erzieherinnen von den engagierten Eltern bis zum Wahnsinn getrieben. Die setzten sich gern stundenlang dazu, auf die kleinen Holzhocker, und kontrollierten, ob die erzieherische Programmatik – in dem Slogan »reizarm, aber impulsreich« zusammengefasst – bis hinein in den Toilettengang eingehalten wurde.
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Also, mein Süßer war damals so gut wie aufgenommen.
Doch dann wurde mir der Putz-und-Koch-Plan vorgelegt – ein großer Moment, denn das war das Zeichen, dass es die Elterninitiative wirklich ernst mit uns meinte: einmal in der Woche einkaufen (nur Demeter-Ware), kochen und abwaschen für die Kleinen und alle zwei Wochen die Rotze von den Filzteilen kratzen! Eine berufstätige Mutter mit einem straffen Fitness- und Wellnessprogramm kann das nicht leisten! Ob man anstelle des Kochdienstes auch »Pizza für alle« bestellen könne, fragte ich, kannte die Antwort aber schon.
Also steckte ich den Kleinen, wie schon seine Geschwister, in eine städtische Kinderaufbewahrungsanstalt mit gelegentlichen Fleischfasern in der Wirsingsuppe und nach Restalkohol riechenden Erzieherinnen – und kümmerte mich um mich.
Eigentlich schade, denn ich habe viele schöne Dinge verpasst. Zuvörderst die beglückende Gemeinschaftserfahrung, die nur ein Elternverein bieten kann. Die Mamas und Papas der »Mauerwanzen« schienen per Satzung dazu verdonnert zu sein, einander Freunde zu werden: Sie verbrachten Weihnachten miteinander, gründeten eine Food-Coop, tauschten Stilleinlagen, Anwälte und Steuerberater und manchmal auch die Partner beiderlei Geschlechts. Der Verein wurde ihnen zur Ersatzfamilie (die echte war ja oft weit), zur Kirchengemeinde, zur Bruderschaft, zum Landfrauenverband. Dort fanden sie Trost, teilten den Ärger über die alte Ost-Mieterin in der Eigentumswohnung und die Verzweiflung über die zu kleine Parklücke für den SUV.

Und nun konnte da jeder kommen?
Leider kommt niemand mehr. In sämtlichen In-Bezirken der Stadt schwächelt die Babyproduktion. In Pankow wären die sterbenden Kitas sogar bereit, Kinder aus dem Brandenburgischen aufzunehmen – quasi eine ganz andere Rasse! Auf den Spielplätzen betteln verzweifelte Elterninitiativler bei syrischen Großfamilien um mindestens eines ihrer Kinder. Auch wenn damit der Migrationsanteil bedrohlich steigen und das »Stadtbild« in der Kita beträchtlich nachdunkeln würde, wären die kleinen Fremden herzlich willkommen. Man würde auch auf Hundesitting ausweiten oder Senioren mitbetreuen. Vielleicht könnte ein privater Bus-Shuttle die kinderreichen Proletarier-Viertel abfahren und Streuner nach Mitte bringen, um die drohende Schließung zu verhindern.
Aber alles ist vergeblich: Eine Kita nach der anderen macht dicht, hunderte Vereins-Eltern, die durch das Betreiben einer Elterninitiative ihren Lebenssinn gefunden hatten, landen auf der Straße. Denn natürlich kommen die Kleinen, die noch da sind, auch in einer seelenlosen Aufbewahrungskita unter, sozusagen dem Staat überlassen – und was der Staat für einer ist, das wissen wir ja … Und was macht die engagierte Elternschaft dann den lieben langen Tag? Man sieht sie schon vormittags in den Cafés vor sich hin sinnieren.
Die Abreißzettel an den Masten haben nichts bewirkt. Auch »die kleinen Mauerwanzen« bereiten sich nun auf ihr Ableben vor. Die bilinguale Pianistin ist schon in einem Kulturkaufhaus untergekommen. Dort spielt sie Richard Clayderman und übersetzt Kassenzettel. Einige Erzieherinnen sehen in der Bundeswehr eine neue Perspektive.
Zum Abschied veranstalten die »Wanzen« ein – natürlich genehmigtes – Lagerfeuerchen im Mauerpark bei selbstgebackenen Pastetchen und italienischem Landwein. Wäre ich eingeladen, ich würde nicht hingehen: Ich kann Vatis nicht weinen sehen.
FELICE VON SENKBEIL

Auslese
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Matti Friedrich - Alles dufte!
WEST-FERNSEHEN Felice von Senkbeil - Schreckliche Verbrechungen,
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Felice von Senkbeil

