Und am Ende gewinnen immer die Deutschen
Der Live-Kommentar vom Endspiel der diesjährigen Fußball-Europameisterschaft
Von MICHAEL KAISER
»Herzlich willkommen, liebe Fußballfans, zum Endspiel um die Europameisterschaft 2020! Erste Gewitterwolken ziehen über dem Verwaltungssitz der UEFA in Nyon auf, doch der Fußballgott meint es gut mit uns, denn während draußen schwüle 32°C herrschen, sorgt die Klimaanlage im Keller des Gebäudes für bestes Fußballwetter. Wie viele von Ihnen war auch ich zuerst skeptisch, ob die Auslosung des neuen Europameisters eine gute Idee sei. Aber schlussendlich haben Fußballexperten wie bwin-Gründer Norbert Teufelberger recht damit behalten, dass wir uns die schönste Nebensächlichkeit der Welt nicht von einem dahergelaufenen Virus kaputt machen lassen dürfen. Und so war es vielleicht ganz gut, dass die Verschiebung der EM um ein Jahr an der für diesen Zeitraum geplanten Saudi-Arabien- und Nordkorea-Reise des FC Bayern München scheiterte. Denn was für aufregende Losentscheide haben wir in den letzten Wochen miterleben dürfen?!
Schon gestern Nachmittag konnte Gibraltar mit dem unglaublichen Lossieg über die ›Three Lions‹ den dritten Platz, und damit den größten Erfolg in seiner 125-jährigen Verbandsgeschichte, feiern. Der gibraltarische … gibraltinische … der Abwehrspieler Gibraltars, Ethan Britto, erklärte hinterher in einem Interview: ›Wir haben zu Hause vor den Bildschirmen alles gegeben. Ich selber habe mir beim Griff in die Chipstüte die Hand gezerrt und trotzdem bis zum Losentscheid immer weiter gefuttert. Mit dieser Moral haben wir den Ziehungsbeauftragten mürbe gemacht. Über diesen Sieg werden unsere Berberaffen auf den Felsen noch in hundert Jahren sprechen, wenn die Menschheit längst ausgestorben ist.‹
Nun also das große Finale! Die Spannung steigt! Die beiden Loskugeln wurden nach der Aufwärmphase gerade wieder in die Umkleidekabine zurückgetragen. Im Rahmen der kleinen Abschlussfeier spielt ein MP3-Player die EM-Hymne ›Football’s staying home‹, während der ehemalige UEFA-Präsident Michel Platini nur mit einem Mundschutz bekleidet durchs Studio flitzt und dabei von einem Ordner mit einem Betäubungsgewehr niedergestreckt wird. Aber auch das gehört zum Fußball! Von solchen Chaoten sollte man sich die Freude an diesem wundervollen Sport nicht verderben lassen.
Das gibt uns Gelegenheit, unsere bis in die Lungenspitzen motivierten Nationalspieler daheim an den Fernsehgeräten zu begrüßen. Jungs! Schnappt Euch den Titel! Nach dem hochdramatischen Halbfinale, in dem wir die Engländer mal wieder in der Elfmeterziehung rausgekegelt haben, scheint nun alles möglich. Wie sagte der twittersüchtige Niemalseuropameister Gary Lineker nach dieser bemerkenswerten Kampfauslosung, in der beide Mannschaften ihre Siegchancen hatten, so schön? ›Fußball ist ein einfaches Spiel: Ein ehemaliger Fußballprofi, den kein Mensch mehr kennt, zieht eine der beiden Loskugeln, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.‹
Unser Gegner Spanien hatte es wesentlich leichter, ins Finale zu kommen, da seine Lostrommel im Halbfinale fünfmal weniger gedreht wurde und sich die Loskugel deshalb ein wenig schonen konnte. Dafür müssen die Spanier allerdings heute auf ihren Kapitän verzichten. Was für ein Drama um Sergio Ramos: Wegen eines nicht getragenen Mundschutzes während der Ziehung gegen Gibraltar wurde er für dieses so wichtige Spiel gesperrt und darf nun sein heimisches Wohnzimmer nicht mehr betreten, um am Fernseher mitzufiebern. Seine Frau hat ein Foto auf Instagram gepostet, wie er völlig geknickt auf dem Klo sitzt und die Entscheidung mit einem antiquierten Transistorradio am Ohr verfolgt.
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Wie ich sehe, stehen die Kugeln bereits am Ausgang der Katakomben bereit. Hören wir nun die Nationalhymnen. Im Anschluss erfolgt wie immer eine Schweigeminute, um all der entgangenen Werbegelder zu gedenken. Ergreifend! Jetzt betritt der Ziehungsbeamte Walter Spahrbier Jr. den Raum. Sofort wird er von Schiedsrichter Collina zurückgepfiffen, der kaum wiederzuerkennen ist, weil er immer noch keinen Friseurtermin bekommen konnte. Collina schreitet 9,15 Meter ab und markiert mit Rasierschaum die Stelle, an der zwei Handwerker der UEFA unverzüglich eine Mauer aus Plexiglas für den Offiziellen aufbauen.
Unter dem frenetischen Applaus aus der Konserve betritt nun der prominente Ehrengast – einer dieser ehemaligen Fußballprofis, die kein Mensch mehr kennt, der aber dem Umfang nach Ailton sein könnte – das Studio.
Jetzt wird’s ernst! Einwurf! Ailton – oder wer auch immer – wirft die beiden Kugeln in die Lostrommel und beginnt sie zu drehen. Er dreht und dreht und dreht. Die Kugeln sind gleich auf, noch ist nicht zu erkennen, welche gezogen werden wird. Selten war ein Finale so spannend! Jetzt öffnet Ailton oder wer die Lostrommel, greift beherzt hinein, zieht eine der beiden Kugeln – und was tut er jetzt? Er wirft sie auf den Boden und beginnt ein Dribbling Richtung Ausgang. Doch da: Nach ein paar Metern bricht er keuchend zusammen. Entweder ist es tatsächlich Ailton oder das Coronavirus hat ihn übermannt.
Die Ziehung ist unterbrochen. Collina lässt die gestrauchelte Existenz vom Spielfeld karren, und für Ailton – oder wen auch immer – wird ein anderer ehemaliger Fußballprofi, den nun aber wirklich kein Mensch mehr kennt, eingewechselt, um die Büchse der Pandemie zu öffnen und den Namen des neuen Europameisters zu verlesen.
Die in der Lostrommel verbliebene Kugel wird entnommen und geöffnet. Und: Es ist DEUTSCHLAND! Deutschland ist Europameister! Unfassbar!
Jungs, diesen Titel habt Ihr euch wirklich verdient! Denn während die meisten spanischen Spieler während der Übertragung auf dem Sofa eingeschlafen sind, haben sich unsere Ballkünstler mit Computerspielen und Pornos wachgehalten. Ich sehe gerade bei Instagram erste Bilder von unseren überglücklichen Europameistern Matthias Ginter und Lukas Klostermann, wie sie sich nicht in den Armen liegen, und von Sergio Ramos, wie er sich aus lauter Enttäuschung selber im Klo runterspült.
Schon ist auch das erste Statement unseres einzigartigen Erfolgstrainers Jogi Löw auf Tiktok zu sehen: ›Ich bin stolz auf unsere Mannschaft. Desch war eine Klasseleistung! Aber klar, da war jetzt durchaus au so was wie Glück im Spiel.‹
Jogi, bescheiden, wie wir ihn kennen! Was war das doch für eine aufregende Europameisterschaft! Liebe Zuschauer zu Hause beim private-viewing, wir sehen uns Weihnachten 2022 wieder bei der Auslosung des nächsten Weltmeisters in einem vollklimatisierten Fernsehstudio in Qatar. Bis dahin: Machen Sie es gut und bleiben Sie gesund!«