Verlassen im Watt

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Das kleine Café gegenüber dem Friedrich-Schiller-Gymnasium hatte gerade erst die Sonnenschirme aufgeklappt und die Stühle rausgestellt, da hockten schon die ersten Eltern darauf: Aufgeregtes Tuscheln, Telefonnummerntausch, ab und zu ein mühsam unterdrücktes Schluchzen in ein vollgeweintes Taschentuch.

Ein Vater in Hemd und Krawatte hatte seinen Rechner auf den Knien und rief aufgeregt in die Runde: »Jetzt müssten sie schon auf der A24 sein!«

Eine Stunde zuvor hatte der Bus mit zwei achten Klassen den Schulhof Richtung Nordsee verlassen. Fünf Tage Klassenfahrt – ein Glücksfall: In Berlin müssen die Lehrer neuerdings für Lustreisen mit einer Horde Hormonzombies selbst zahlen. Wer macht das schon freiwillig – mehrere Tage bei Billigfleisch mit Kohlenhydraten und Früchtetee in gefliesten Schullandheimen hocken – und dafür Gehalt einbüßen? Das müssen Helden sein, da waren wir uns einig.

Andreas Zöls

Eine gewisse Ehrfurcht vor ihnen war vielleicht schuld daran, dass in der Vorbereitungsphase auf die Klassenfahrt kaum ein Aufbegehren der Elternschaft zu vernehmen war. Da war nämlich etwas, das uns sehr beunruhigte: die Checkliste. Da stand: »Bringt bitte was zum Fotografieren und Musikhören mit, eine Kamera, vielleicht einen Kassettenrecorder, einen Zettel mit wichtigen Telefonnummern und Postkarten mit Briefmarken.«

Ich lachte laut auf, als ich das las: Was für ein toller, humorvoller Einfall – die Klassenfahrt als Themenausflug in die Achtziger!

Doch dann begriff ich – das war ernst gemeint, denn es fehlten Anweisungen zur Handynutzung. Mein Sohn sollte ganz ohne Handy verreisen, ohne jenen geliebten Gegenstand, ohne den er nie ins Bett und schon gar nicht aufs Klo geht!

Mich durchfuhr ein Schmerz, als hätte man die Nabelschnur ein zweites Mal durchtrennt. Wie soll ich meinem Sohn denn aufmunternde Smileys schicken, falls er gemobbt wird (Zahnspange!), wenn er Durchfall, Durst oder eine Erektion hat? Wie sollen ihn denn stabilisierende Botschaften wie: »Mama liebt dich!« oder »Gute Nacht, kleiner Prinz!«, und »Einen wunderschönen Tag, mein Sonnenschein!« erreichen? Und wie soll er mir Fotos von der Unterkunft und dem Essen senden?

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Wir Eltern haben ein Recht auf Kontrolle! Das könnten dort doch Zustände sein wie in einem Flüchtlingslager, und wir könnten nicht eingreifen.

Der Elternsprecher der 8a wurde aktiv. »Kleines Meinungsbild einholen: wer findet das bedenklich, mit dem Handyverbot?« Sekündlich summte mein Telefon. Einige Eltern fanden, ein paar Tage Digital-Detox könnten den Kindern guttun, aber die meisten hielten das für Quatsch. Die Kinder würden ja bekanntlich verantwortungsvoll mit ihren Handys umgehen und auch mal was Analoges machen: Flaschendrehen, Mädchen fesseln oder Türklinken beschmieren – was man eben so macht auf Klassenfahrten. Mal nicht ständig auf Instagram und YouTube zu sein, mal nicht jeden Post zu teilen, das fanden wir alle richtig und gut.

Aber ist das nicht gefährlich? Was, wenn sie auf giftige Pflanzen oder gefährliche Tiere treffen und die Erste Hilfe nicht googlen können? Oder wenn ein Vergewaltiger aus dem Inselknast entflohen ist – wie sollten wir sie warnen? Und die Nordsee ist bekanntlich heimtückisch, Ebbe und Flut – das kennen Berliner Kinder doch gar nicht. Und wie schnell ist man beim fröhlichen Spiel unter einer Sandburg verschüttet, ja begraben – da kann man das Kind nicht einmal tracken.

Wir haben in der Elternschaft einige Anwälte. Deren Kanzleien haben die Schule gleich über die Rechtslage informiert. Grundsätzlich haben unsere Kinder nämlich ein Recht auf Handynutzung und Elternkontakt.

Aber das war heikel: Wie schnell meldet sich so eine Lehrerseele krank und von der Klassenfahrt ab. Dann würden unsere Kinder nie die Schönheit des Wattenmeers sehen.

Doch das Kollegium reagierte »umgehend und verständnisvoll« – das Handyverbot wurde gelockert: Anrufe in Notfällen wurden gestattet.

Wir besprachen mit unseren Kindern, was ein Notfall sein könnte. Mein Sohn und ich einigten uns darauf, dass es bei mir einen mentalen Notfall auslösen würde, wenn am Morgen kein Anruf käme und keiner am Abend. Sondernotfälle wären zusätzlich fiebriges Heimweh oder nicht lokalisierbarer Bauchschmerz. Aber ich machte auch Zugeständnisse und verzichtete auf das obligatorische Foto vom Stuhlgang – aber nur ausnahmsweise.

Zwei Tage vor Abfahrt schrieb die Lehrerin eine Mail. Die Kinder der 8. Klassen hätten einstimmig beschlossen, nun doch keine Handys mit zur Klassenfahrt nehmen zu wollen. Obwohl sie ihren Schülern mit unseren Anwälten drohte, konnte die Lehrerin sie nicht von dem Modell »Notfallkommunikation« überzeugen. Das war ein schwerer Schlag für uns Eltern. Es sah ganz so aus, als wollten die Kleinen mal ein paar Tage nichts mit uns zu tun haben.

Einige Mütter kauften Tracker im Dreierpack und nähten sie heimlich in die Kleidung ihrer Kinder ein. So würden sie wenigsten die Küstenwache informieren können, falls der Liebling im Watt umherirrte. Andere statteten ihre Kids mit Smartwatches aus, die fast wie gewöhnliche Uhren aussahen. Und ich überredete meinen Sohn, sein Handy heimlich in ein Comicbuch einzupassen. Das fand er lustig, und ich versprach, mich nur im absoluten Notfall zu melden. Und jetzt hockten wir vor der Schule im Café. Unserer Berechnung nach mussten sie nun am Dreieck Wittstock-Dosse sein.

Böiger Wind kam auf, die Sonnenschirme wurden eingeklappt. Ein Notfall! Sollte ich meinem Jungen texten, dass er die Windjacke aus seinem Rucksack holen soll? Nein, das hatte noch Zeit und vielleicht kam er sogar auch selber drauf.

Wir beschlossen, für die kommenden fünf Tage im Wechsel die Live-Wettercams der Nordsee-Insel im Auge zu behalten, ausgenommen nachts. Die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Kinder einmal täglich durchs Bild laufen, sei nicht groß, sagte unser Elternsprecher, aber unsere einzige Hoffnung. Vielleicht winkt ja sogar einer …

FELICE VON SENKBEIL

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