Vögelchen, flieg!
Mit zwei Flaschen Chardonnay stand die Nachbarin vor der Tür. Es gäbe was zu feiern, quietschte sie und quetschte sich in den Flur. Dazu musste sie, wie jeder Gast, einige Berge gewaschener und ungewaschener Kleidung, eine Kaskade aus Buddelzeug und nach Katzenpisse riechenden Sportschuhen überklettern. Diese Latschen sind mit den Jahren so riesig geworden, dass unser alter Kater, wenn seine Stunde gekommen ist, unbemerkt darin verwesen kann.
Die Nachbarin ließ sich auf den Küchenstuhl fallen und jubelte: »Endlich ist die Rotzgöre ausgezogen!«
»Deine Luna? Aber die ist doch erst 23!« (Aus Berlin-Mitte, zumal aus unserem Genossenschaftshof, zieht man eigentlich erst aus, wenn man zwangsgeräumt oder verstorben ist.)

»Wohin denn?«, wollte ich wissen. Eine Wohnung oder ein WG-Zimmer kann sich ein junger Mensch in der Stadt (die »Stadt«, das ist für uns das Innere des S-Bahn-Rings) kaum leisten. Die einzigen, die das gemütliche Nest verlassen, zieht es zum Medizinstudium nach Halle oder zum work-and-travel nach Australien.
Aber mit 23 schon flügge? Nach dem Abi bzw. dem Schulabbruch gönnen sich die Kinder, die auf unserem Hof großgeworden sind, für gewöhnlich einige Jahre der Auszeit, um das Zwangsregime Schule seelisch zu verarbeiten und endlich mit Hilfe leichter Drogen zu sich selbst zu finden. Die Luna meiner Nachbarin war eigentlich sehr anhänglich und ich hätte nie gedacht, dass sie schon reif genug für ein Leben ohne mütterliche Kontrolle wäre.
Die Nachbarin goss mir ein Glas Schaumwein ein und öffnete die zweite Flasche für sich allein. Sie begann, in Trippelschritten meine Wohnung abzulaufen, die hat ja denselben Schnitt wie ihre, und in Gedanken neu einzurichten. »Endlich Platz und Ruhe«, stöhnte sie und schüttete sich die halbe Schaumweinflasche in den Hals. Jetzt sei sie frei und könne, nach fast einem Vierteljahrhundert der mütterlichen Fron, tun, was sie wolle. – Vielleicht wie früher nächtelang kiffend DMAX glotzen, eine Karriere als Onlyfans-Model starten oder in der ganzen Wohnung das Licht anlassen – und im Winter ausschließlich mit dem Gasherd heizen.
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Vielleicht bietet sie Lunas Zimmer bei Airbnb an, wenn sie den penetranten Deospray-Geruch rausbekommt. Dann könnte sie interessierten Ausländern ihre Ossi-Mauerfall-Geschichte erzählen, oder sie sucht sich einen süßen Erasmus-Studenten, der (»mit einer bunten Feder im Popo«, die Nachbarin kichert) kochen und putzen würde.
Und was sie nun alles nicht mehr tun müsste; die stinkende Mortadella kaufen, die Luna liebt, anrufen, wenn sie in der Kneipe versackt, Spitzen-BHs mit der Hand waschen, den teuren Lippenstift teilen und jeden Sonntag Eierkuchen backen.
Auf unserem Hof ist es kein Geheimnis, dass Luna und ihre »Mum« immer mal aneinandergerieten. Luna hatte ein beeindruckendes Repertoire an Verbalinjurien auf Lager, die sie ihrer Mutter aus dem Fenster nachrief, wenn diese zum Yogakurs flüchtete.
»Nun ist mein Vögelchen ausgeflogen«, seufzte die Nachbarin. Es kam ganz schleichend. Sie bemerkte, dass die Kleidung immer weniger wurde. Luna zog sich mehrere Pullis und Hosen an, um sie heimlich aus der Wohnung zu schleppen. So lief der gesamte Umzug, bis das Zimmer leer war und Luna verkündete, dass sie »eine neue Heimat« in Neukölln bei ihrem Freund gefunden habe.
Ich war schockiert. Wie konnte man nicht bemerken, dass sich das eigene Kind vom Acker macht?

In dieser Nacht (ich schlief mal wieder nicht, weil der Sohn auf irgendeiner »Home« rumhing) durchschritt ich sein Knabenzimmer. Ich stellte mir vor, wo ich meinen Schreibtisch hinstellen würde und wie ich die versifften Jugendzimmer-Möbel zum Verschenken auf die Straße stellen würde. Ich hätte Platz für ein Hobby, ein Aquarium vielleicht. Ich könnte FaceTime-Meetings machen, ohne fürchten zu müssen, dass er im Nebenzimmer beim Ego-shooter-zocken ausrastet. Ich könnte aufs Klo, wann immer ich wollte, müsste kein rotes Fleisch mehr zubereiten, keine Pickel mehr ausdrücken, keine russischen Popsongs mehr hören und nie wieder Sportsocken sortieren. Dabei fiel mir auf, es waren ungewöhnlich wenige Socken in seinem Schrank … Und der Schlafanzug? Und die Seepferdchen-Urkunde? Verschwunden!
Er hatte also Kleidung und Dokumente außer Hauses gebracht. Sollte das der Anfang vom Ende sein?
Mich durchfuhr ein Schreck. Mit 18 ist er der Welt da draußen doch noch gar nicht gewachsen. Was, wenn Trickbetrüger von der Telekom an seiner Tür klingeln … er unterschreibt doch alles, nur weil er stolz ist, endlich schreiben zu können. Und was, wenn er sich beim Pizzaschlingen verschluckt und keiner seiner Kumpels den Heimlich-Griff beherrscht?
Und für wen soll ich dann sonntags Eierkuchen backen? Ich esse ja kein weißes Mehl.
Ich legte mich in sein Bett, um ihn direkt zur Rede zu stellen, wenn er heimkommt.
Ein Wimmern weckte mich. Es war nicht mein versoffener Sohn, es war auch nicht der sterbende Kater, es war die Nachbarin.
Sie hockte auf ihrem Balkon, hörte den »Traumzauberbaum« und hatte Kinderzeichnungen um sich herum drapiert. »Ist was passiert?«, rief ich über den Hof. Sie schrie: »Empty-Nest-Syndrom, kriegen alle …«
Ich googelte sofort: Als Empty-Nest-Syndrom wird eine Gefühlslage von Einsamkeit und Trauer beschrieben, die sich bei der Mutter und/oder dem Vater einstellen kann, nachdem das Kind das elterliche Haus verlassen hat.
Das war also mein Leben: die pränatale Depression vor achtzehn Jahren, der Burn-out in seiner Grundschulzeit, die Putzzwangsstörung in seiner Pubertät, die Angststörung bis heute und nun auch noch dieses schreckliche Empty-Nest-Ding!

Das kann er vergessen!
Ich las alle Ratgeberseiten, schaute NDR-Talkshows, kontaktierte Selbsthilfegruppen. Wie kamen denn andere mit so einem Drama zurecht?
Ausgediente Eltern ließen leere Waschmaschinen laufen, kochten große Mengen Spaghetti Bolognese und schmierten Stullen, die im Mülleimer landeten. Andere kauften sich anspruchsvolle Tiere, verließen den Partner oder begannen einen Salsa-Tanzkurs. Furchtbar!
Auf dem Balkon gegenüber begann die Nachbarin Lunas Kita-Kunst zu verbrennen.
Ich aber ging in die Offensive! Ich stopfte die Klamotten meines Sohnes in Mülltüten. Ich packte seine Donald-Duck-Bücher in Kisten, legte ihm das Impfheft und die Steueridentifikationsnummer auf den Schreibtisch. Dann zog ich mein schönstes Kleid an.
Am Morgen rief ich die Familie an den Frühstückstisch. Eier mit Speck – damit war er doch immer aus dem Suffschlaf zu erwecken!
Ich verkündete: »Ich bin sehr stolz darauf, mein ältestes Kind nun in die Freiheit entlassen zu können. Du darfst – nach Anmeldung und im Notfall – jederzeit für eine Nacht auf der Couch im Wohnzimmer übernachten. Dein Zimmer wird mein neues Büro. Ich werde einen Roman schreiben!«
Alle schwiegen, nur die Bialetti blubberte. Dann erhob sich dieser große, junge Mann, umarmte mich fest und sagte: »Mama! Ich zieh doch nicht aus. Bin ich blöd oder was?« Er schlurfte zurück in sein »Reich« und ich versprach, ihm die Frühstücksreste ans Bett zu bringen.
FELICE VON SENKBEIL
AnzeigeAuslese
- Was hat der Kanzler gesagt?
Matti Friedrich - Alles dufte!
WEST-FERNSEHEN Felice von Senkbeil - Schreckliche Verbrechungen,
Felice von Senkbeil - O’zapft war’s!
Felice von Senkbeil - Vögelchen, flieg!
Felice von Senkbeil - Ein toller Kerl!
Ewald Müller Vaginen sind in aller Munde, wenn man das so sagen darf.

