Leben wie die Fadenwürmer

von Peter Köhler

Gerald und Gerold sind eineiige Zwillinge, und das seit 80 Jahren. Doch sie könnten kaum unterschiedlicher gestrickt sein. Gerold ist von oben bis unten verbeult und verschrumpelt, die Haut bis auf den Grund von tiefen Gräben zernagt. »Die Muskeln morsch, die Arterien verschlammt und das Gehirn voller Schlaglöcher!«, skizziert Professor Porschke, Gründer der Gerontologischen Forschungsanstalt Zittau, mit trockenen Worten die Lage. Gerald ist von anderem Kaliber. Die Haltung aufrecht wie eine kerzengerade gezogene Wand, die Haut knitterfrei wie frisch gebügelt, das Haupthaar stark und dicht wie ein gerade gekaufter Wischmop. »Alle Muskeln auf Zack, das Herz jederzeit in der Lage, auf 180 km/h zu gehen, das Gehirn mit voller Schubkraft unterwegs!«, verdeutlicht Porschke und hängt die beiden Schaubilder ab.

Guido Sieber

»Gerold symbolisiert die ungeschminkte Wirklichkeit von heute. Gerald steht für die Zukunft, sobald das Geheimnis der ewigen Jugend schlüsselfertig enttarnt ist.« Professor Porschke, immer noch tagaktiv, obwohl längst pensioniert, schnauft durch seine in schätzungsweise 80 Jahren lang gewordene Nase, zupft ein tief herunterbaumelndes Ohrläppchen zurecht und muss sich erst einmal setzen.

»Bislang kommt nach spätestens 120 Kalenderumdrehungen der Abpfiff«, fährt Porschke nach kurzem Aussetzer fort. »Aber die Natur kennt Bäume, die 4000 Jahre lang strammstehen. So weit sind wir hier noch nicht, aber bei Fruchtfliegen konnte man das Leben bereits um ein paar Atemzüge verlängern und bei Fadenwürmern sogar um das Zehnfache!«

Weiter geht es im EULENSPIEGEL 01/2020

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